Nach Brandanschlag mit vier Todesopfern ist die migrantische Community verunsichert. Von Sebastian Weiermann

Erst ist es nur eine Stimme, dann werden es immer mehr, nach wenigen Augenblicken sind es hunderte Menschen, die ein Wort rufen: »Adalet«, türkisch für »Gerechtigkeit«. Der Trauermarsch, der am Samstagnachmittag durch Solingen zieht, ist nicht still wie geplant. Zu groß sind Angst, Wut und Verunsicherung bei den Menschen, die gekommen sind.

In der Nacht vom 24. auf den 25. März war in Solingen ein Haus abgebrannt, eine vierköpfige Familie verlor bei dem Brand ihr Leben. Acht weitere Menschen wurden verletzt und müssen intensivmedizinisch versorgt werden. Die Staatsanwaltschaft geht von Brandstiftung aus.

Die Opfer des Brandanschlags heißen Katja, Kuncho, Galia und Emili. Ein junges Paar, keine 30 Jahre alt, die jüngste Tochter Emili war erst sechs Monate Jahr alt. Die Familie stammt aus der bulgarischen Region Plovdiv und gehört der türkischen Minderheit an. Nach Deutschland war sie erst im Januar gekommen, um sich ein besseres Leben aufzubauen.

An dem Trauermarsch am Samstag nahmen viele Menschen teil, die wie Familie Zhilova nach Deutschland kamen, weil sie ein besseres Leben suchen. Was sie in Deutschland erleben, ist jedoch allzu oft prekär. Auf dem Solinger Marktplatz hält ein Mann ein Schild in der Hand, darauf steht: »Besserer Brandschutz«. In gebrochenem Deutsch berichtet er von der schlechten Wohnsituation für sich und seine Landsleute, von Gefahren durch überfüllte Wohnungen und schlechte Elektrik.

Das war in Solingen nicht das Problem. Es war Brandstiftung, da sind sich die Ermittler*innen sicher. Die Staatsanwaltschaft hatte zunächst bekannt gegeben, dass sie keine Anhaltspunkte für ein »fremdenfeindliches Motiv« habe, das brachte ihr viel Kritik ein. Ende vergangener Woche wurde außerdem eine Festnahme gemeldet und von einer Tat im »zwischenmenschlichen« Bereich gesprochen. Der Verdächtige wurde allerdings wieder freigelassen, er verfügt über ein Alibi. Inzwischen erklärte die Staatsanwaltschaft, dass sie in alle Richtungen ermittle.

Der aus jungen Menschen bestehende Solinger Verein BIPoC Voices schrieb auf Instagram, dass die frühe Stellungnahme der Staatsanwaltschaft für sie »ein Schlag ins Gesicht« gewesen sei. Man werde mit Ängsten und Schmerzen nicht nur allein gelassen, sondern auch nicht ernst genommen. Der Brandanschlag habe ihnen »buchstäblich den Boden unter den Füßen weggezogen«. Der junge Solinger Torhan Gülderen brachte seine Gedanken so zum Ausdruck: »Zu wissen, dass die eigene Heimatstadt wieder in Brand gesetzt wurde und die Angst, dass sie wieder brennen könnte, zerreißt mir das Herz.« Gülderen spricht an, was vielen Menschen durch den Kopf geht. Der rassistische Brandanschlag von 1993, bei dem fünf aus der Türkei stammende Menschen starben.

Am Trauermarsch nimmt auch Alexandra Mehdi von der Solinger Linken teil. Sie hört die Rufe nach Gerechtigkeit und die Parole »Kein Hass in Solingen!« und sagt: »Natürlich erinnern diese Botschaften an die schrecklichen Ereignisse von 1993 und die nahezu unfassbare Großherzigkeit von Mevlüde Genç, die trotz der Trauer um ihre ermordeten Kinder dazu aufrief, nicht dem Hass das Feld zu überlassen.« Mehdi sagt, bei Ermittlungsbehörden, Politik und Stadtgesellschaft liege jetzt die große Verantwortung, »dass der Schatten, der seit dem Brandanschlag und den Morden vor 31 Jahren über Solingen liegt, nicht wieder zum Unwetter wird«. Dies könne nur gelingen, wenn Fehler der Vergangenheit nicht wiederholt werden. Mehdi erinnert an die NSU-Morde, bei denen die Ermittler die Täter lange nur in der migrantischen Community suchten.

Mehdi sagt, dass nun Erinnerungen und Ängste wach würden, und dass neben der Aufklärung wichtig sei, dass es »gerade jetzt eine massive Aufstockung für Räume zur Aufarbeitung und sozialen Begegnung« brauche. Leider geschehe durch Einsparungen im sozialen Bereich »exakt das Gegenteil«.

Als der Trauermarsch am Brandhaus in der Grünewalder Straße ankommt, ergreift Solingens Oberbürgermeister Tim Kurzbach das Wort. Kurzbach ist bekennender Katholik und spricht priesterlich. Er redet über die »Finsternis«, der man keinen Platz im Herzen geben dürfe, und fordert zur Mitmenschlichkeit auf. Neben Kurzbach nehmen auch der Antiziganismusbeauftragte der Bundesregierung, Mehmet Daimagüler, und der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, teil. Reden halten beide nicht.

Die Trauerkundgebung ist in der Hand von Organisationen mit Bezug zur Türkei. Der türkische Generalkonsul spricht und erklärt, dass sein Präsident und seine Regierung aufmerksam auf Solingen schauten. Auch Muharrem Kuzey, Vorsitzender des vom türkischen Staat abhängigen Moscheeverbands Ditib, erinnert an frühere Brandanschläge, nicht nur in Solingen, und spricht über das gesellschaftliche Klima, das in den 1990ern herrschte und bei dem er Parallelen zu heute erkennt. Explizit erwähnt er die Stimmungsmache gegen Geflüchtete und die »Deportationspläne« der AfD.

In Solingen herrscht Verunsicherung, man will nun Polizei und Staatsanwaltschaft ganz genau auf die Finger schauen und fordert Aufklärung und Gerechtigkeit. Das eint am Samstag Menschen mit ganz unterschiedlichem politischen Hintergrund.